Verfasst von Wilhelm Matzat. Photos von Dietrich Köster
Die städtebauliche und wirtschaftliche Entwicklung der Stadt Tsingtau soll hier kurz dargestellt werden. Sie entspricht den Zeiträumen unterschiedlicher Herrschaft in den letzten 100 Jahren:
1. 1897-1914 Deutsche Besetzung und Stadtgründung
2. 1914-1922 Erste japanische Besetzung
3. 1922-1929 Warlord-Periode
4. 1929-1937 Erste Guomindang-Periode
5. 1938-1945 Zweite japanische Besetzung
6. 1945-1949 Zweite Guomindang-Periode
7. seit 1949 Periode der Volksrepublik
Zu 1. Die Besetzung der Halbinsel von Tsingtau durch die Deutschen geschah am 14. November 1897. Andererseits dauerte die Besetzung nur 17 Jahre und so konnte kein Gewinn aus den Investitionen gezogen werden. Durch die annähernd zweihundert Millionen Goldmark, die die Deutschen bei der Anlage der neuen Stadt, des Hafens und der Eisenbahn nach Jinan verbauten, haben sie praktisch ein Entwicklungsgeschenk gemacht, auch wenn die Chinesen nicht darum gebeten hatten. Durch den Vertrag vom 6. März 1898 konnte Deutschland ein Gebiet von rund 550 qkm für 99 Jahre pachten. In diesem Pachtgebiet gab es etwa 300 Dörfer, in denen an die 80.000 Chinesen lebten. Der westliche Zipfel der Halbinsel war für die Anlage der neuen Stadt und des Hafens vorgesehen.
Hier wurden rund 20 qkm Boden vom deutschen Gouvernement den Bauern abgekauft. Neun ländliche Siedlungen mußten weichen. Dazu gehörte auch das Fischerdorf Tsingtau. Sein Name wurde auf die neue Stadt übertragen. Diese wurde am 2.9.1898 zum Freihafen erklärt, und nach Erstellung eines Bebauungsplanes konnte seitens der Verwaltung mit dem Verkauf von Grundstücken an europäische und chinesische Interessenten begonnen werden. Um Bodenspekulation zu verhindern, hatte der amtierende Zivilkommissar Schrameier eine besondere Land- und Steuerordnung verfaßt, die neuartig war, da hier weltweit erstmalig eine Besteuerung des zukünftigen, unverdienten Bodenwertzuwachses eingeführt wurde.
Die städtebauliche Konzeption aus den Jahren 1898/99 war praktisch eine Vorwegnahme des Modells der Regionalstadt, wie sie später der Stadtplaner Hillebrecht für Hannover entwickelt hat. An der Tsingtau-Bucht wurde die Europäerstadt begründet mit einem Villenviertel weiter im Osten an der Huiquan-Bucht. An die Europäerstadt schloß sich im Norden das chinesische Geschäftsviertel Dabaodao an, und einige Kilometer entfernt im Westen sowie im Osten wurde je ein Arbeiterviertel angelegt (Taixizhen und Taidongzhen). Nördlich von Dabaodao lag eine breite Schlucht, in der zwei Ziegeleien sich niedergelassen hatten, und daran schloß sich nördlich das Gelände des Großen Hafens an. Als hier 1904 der Hafenbetrieb aufgenommen wurde, entstand als 6. Stadtteil das Hafenviertel, in dem immer mehr deutsche und chinesische Firmen ihre Geschäfts- und Lagerhäuser errichteten. Ein wichtiger Meilenstein war die Eröffnung der ersten Mole des Großen Hafens und die Fertigstellung der Bahnstrecke Tsingtau-Jinan, beides im Jahre 1904. Die Entwicklung Tsingtaus von 1898 bis 1914 ist ausführlich in den jährlich von der Verwaltung herausgegebenen Denkschriften festgehalten worden.
Mit Hafen und Eisenbahn waren wichtige infrastrukturelle Voraussetzungen geschaffen worden, Tsingtau zu einem Handelsplatz und Badeort auszubauen. Erst allmählich tauchte der Gedanke auf, diesen Standort auch für größere Industrieanlagen vorzusehen. Die weit gediehenen Pläne, hier zwei Hochöfen zu errichten, wurden durch den 1. Weltkrieg zu Fall gebracht. Am Ende der deutschen Besatzungszeit gab es die staatlich betriebene große Werft, die über ein 16.000 t großes Schwimmdock verfügte, eine Eisenbahnreparaturwerkstatt, zwei Ringofenziegeleien, einen Kalksandstein-Steinbruch, zwei Fabriken für Eiprodukte, eine Strohbortenbleicherei und Strohhutfabrik, eine Seidenspinnerei, ein Sägewerk, eine Seifenfabrik, eine Faßfabrik für autogen geschweißte Fässer, mehrere Getreidemühlen, Druckereien, Mineralwasserfabriken und zwei Brauereien.
Am Ende der deutschen Zeit, im Jahre 1913, wohnten im Tsingtauer Stadtbezirk 58.011 Personen. Diese Bevölkerung setzte sich zusammen aus 53.312 Chinesen, 2.069 Europäern und Amerikanern, 2.400 Soldaten der Garnison, 205 Japanern, 25 anderen Asiaten. Im agrarisch bestimmten Bezirk des Pachtgebietes lebten geschätzte 100.000 Chinesen in 275 Dörfern.
Zu 2. Nach dem Ausbruch des 1. Weltkrieges erklärte Japan Deutschland den Krieg, belagerte und eroberte die Stadt am 7. November 1914. Bei der Verteidigung Tsingtaus wirkten 183 Offiziere und 4881 deutsche und österreichische Männer des Unteroffiziers- und Mannschaftsstandes mit. Die Verluste betrugen fast 200 Tote und 500 Verwundete. Nahezu alle Verteidiger kamen für 5 Jahre oder länger nach Japan in Gefangenschaft. An Deutschen blieben bis 1920 in Tsingtau rund 300 Frauen und Kinder und ein paar Dutzend ältere Männer zurück. Auch die Japaner hatten die Vorstellung, sie würden sehr lange in Tsingtau bleiben, und so strömten viele japanische Kaufleute und Gewerbetreibende aller Art hierher. Die zwei erwähnten Ziegeleien wurden beseitigt, das Gelände wurde planiert und überbaut, und so entstand ab 1915 zwischen Dabaodao und dem Hafenviertel eine typische Japanerstadt. Hatten 1913 erst 205 Japaner in Tsingtau gelebt, so waren es 1920 schon 17.597. Die zweigeschossige Reihenhausbauweise mit Ziegelsteinen unterschied sich zwar kaum von der in den Chinesenvierteln, doch erkennt man noch heute die ehemaligen japanischen Wohnhäuser an bestimmten Stilelementen. Die Japaner hatten wie die Deutschen den Ehrgeiz, Tsingtau zur Musterkolonie aufzubauen, und so scheuten sie keine Ausgaben, um repräsentative Bank-, Handels-, Schul- und Verwaltungsgebäude zu errichten, die den Vergleich mit den von deutscher Seite geschaffenen Bauten aushalten konnten. Außerdem entstanden neue Fabriken größeren Ausmaßes: Sechs Baumwollspinnereien, Streichholzfabriken, Ölpressen, Knochenmühlen, eine japanische Getas-Schuhfabrik, sowie eine große Zigarettenfabrik einer britisch-amerikanischen Firma.
Durch den Zustrom von Japanern und Chinesen und die nur zweigeschossige, flächenfressende Bauweise entstanden 1915-1922 in erstaunlich kurzer Zeit neue, große Stadtteile. Vor allem das ausgedehnte Industrie- und Wohnviertel zwischen dem Hafen und Taidongzhen und die schon erwähnte Japanerstadt, während das Gelände westlich des Hauptbahnhofes bis nach Taixizhen von Chinesen besiedelt wurde. Anfang der 1920er Jahre war also aus der baulich noch getrennten Mehrkernanlage der Deutschen Zeit eine zusammenhängende Flächenstadt geworden, allerdings in Form eines liegenden V, denn zwischen Hafen- und Industrieviertel im Norden und der Gartenstadt im Süden am Meer schob sich der von den Deutschen angelegte Grüngürtel vom Gouvernements- und Observatoriumshügel, Signalberg (Xinhaoshan), Bismarckberg (Qingdao shan), Forstgarten (heute Zhong shan-Park) bis zu den Iltisbergen (Taiping shan). Um eventuell nach dem 1. Weltkrieg Tsingtau zurückerhalten zu können, erklärte China im Jahre 1917 dem Deutschen Reich vorsorglich den Krieg. Bei den Versailler Friedensverhandlungen zeichnete sich ab, daß die Stadt in der Hand der Japaner bleiben würde, und so kam es am 4. Mai 1919 in Peking zu einer Machtdemonstration von Studenten. Diese hat der neuen Welle nationaler Empörung und Sammlung den Namen gegeben: Die 4. Mai-Bewegung Die Republik China unterzeichnete daraufhin nicht den Versailler Vertrag, und Tsingtau blieb unter der Bezeichnung Die Shandong-Frage ein Zankapfel der internationalen Politik. Auf Drängen der Vereinigten Staaten setzten sich schließlich die Japaner und Chinesen in der Washingtoner Konferenz (12.11.1921 bis 6.2.1922) an den Verhandlungstisch, und Japan erklärte sich bereit, Tsingtau und die Shandong-Eisenbahn an China zurückzugeben. Diese Übertragung erfolgte am 10. Dezember 1922. Mehrere tausend Japaner verließen daraufhin die Stadt. Doch wohnten 1926 immer noch 13.344 von ihnen hier.
Zu 3. Die Warlord-Periode 1922-1929 war im wesentlichen eine Zeit des wirtschaftlichen und städtebaulichen Stillstandes, da die neue chinesische Verwaltung und die Provinzregierung in Jinan aufgrund der bürgerkriegsähnlichen Zustände gar keine Mittel für Investitionen hatten, sondern im Gegenteil die Stadt als Pfründe betrachteten, aus der durch Anziehen der Steuerschraube so viel Geld wie nur möglich herauszupressen sei. Im Jahre 1924 wurde wieder eine Deutsche Schule und Ende 1926 ein Deutsches Konsulat in Tsingtau eingerichtet, das bis 1945 bestand. In den 1920er Jahren gab es rund 250 Deutsche in der Stadt.
Zu 4. Als die Guomindang-Truppen auf ihrem Nordfeldzug 1928 Jinan erreichten, traten ihnen die Japaner entgegen, die mehrere Regimenter in Tsingtau gelandet und per Bahn dorthin gebracht hatten. Es kam zum Jinan-Zwischenfall. So konnte die Guomindang Tsingtau erst 1929 besetzen. Der neue Bürgermeister, Admiral Shen Hung-lieh (1931-1937), hatte den Ehrgeiz zu beweisen, daß nicht nur die Deutschen und Japaner, sondern auch die Chinesen die Stadt voranbringen konnten. Da es in der Provinzhauptstadt die von amerikanischen und britischen Missionaren gegründete Qilu University bereits gab, wurde nun in Tsingtau die Shandong University gegründet. Eine ihrer Studentinnen sollte 1966 im Rahmen der Kulturrevolution weltbekannt werden: Jiang Qing, die Frau Mao Zedongs und Mitglied der Viererbande Vor allem wollte Shen an der Schauseite, der Uferpromenade am Gelben Meer, dort wo Tsingtau besonders deutsch aussieht, städtebauliche Akzente im chinesischen Architekturstil setzen. So erhielt die Landungsbrücke an der Spitze einen Pavillon und an der Laiyang-Straße wurde 1932 das Aquarium mit Pailou (Torbogen) gebaut, auf dem Klara-Berg (Xiaoyüshan) eine buddhistische Lesehalle, in Zhanshan ein buddhistischer Tempel mit Pagode und an der Universitätsstraße die große Anlage der Roten Swastika-Sekte – auch die 5 Religionen-Sekte genannt – in chinesischer Bauweise errichtet. Auch neue Industriebetriebe ließen sich nieder wie ein Eisenwerk und Betriebe der Lederindustrie. Die positive Entwicklung brach ab, als Japan 1937 den Krieg mit China begann. Innerhalb von wenigen Tagen verließen rund 15.000 Japaner die Stadt. Ihre Wohnungen und Geschäfte wurden später zum Teil geplündert, die japanischen Baumwollfabriken bei Sifang und Cangkou angezündet. Trotz umfangreicher Verteidigungsmaßnahmen, bei denen wertvolle Baumbestände im Foushan und Laoshan sinnlos abgeholzt wurden, fiel kein Schuß, als die Japaner Anfang 1938 Tsingtau besetzten. Die chinesischen Soldaten hatten schon Tage vorher die Stadt verlassen.
Zu 5. und 6. Mit den japanischen Truppen kehrten auch viele japanische Zivilisten nach Tsingtau zurück, und die zerstörten Fabriken wurden wieder aufgebaut. Umgekehrt strömten nun zahlreiche Chinesen in die nicht besetzten Gebiete. Im Jahre 1945 lebten rund 400 Deutsche in Tsingtau, und in der gesamten Provinz Shandong wirkten auf den verschiedenen Missionsstationen rund 400 katholische Patres und Nonnen deutscher Staatsangehörigkeit. Nach Kriegsende landeten Streitkräfte der Guomindang und die 6. US-Division der Marine-Infanterie in Tsingtau und repatriierten die japanischen Soldaten und Zivilisten. Das Hinterland und große Teile Shandongs waren bereits von den Kommunisten besetzt. Sie unterbrachen auch die Bahnlinie nach Jinan. Die japanische Besatzungszeit und der anschließende Bürgerkrieg konnten infolgedessen keinen Entwicklungsschub bewirken. Tsingtau selbst konnte nur relativ spät von den Kommunisten besetzt werden, da es Stützpunkt der US-Kriegsmarine war und die letzten amerikanischen Schiffe erst am 24.5.1949 die Hafenstadt verließen. Für die Zeit des Einmarsches der Kommunisten am 2.6.1949 schätze ich die Zahl der Deutschen in Tsingtau auf knapp 70 Personen, einschließlich 11 Patres der Steyler Mission, die von 1951 bis 1953 im Gefängnis saßen.
Zu 7. Schließt man die verheerende Taiping-Rebellion (1850-1864) und den Koreakrieg ein, so kann man von einer hundertjährigen Periode der Kriege, Bürgerkriege und des Banditenunwesens sprechen, die durch die kommunistische Machtübernahme auf dem Festland beendet wurde und nach der Ermordung mehrerer Millionen angeblicher Klassenfeinde und Einrichtung zahlreicher Konzentrationslager endlich eine Befriedung vom Typ Friedhofsruhe brachte und immerhin eine Grundlage für Wiederaufbau und wirtschaftliche Entwicklung lieferte. Ein vorrangiges Ziel des Aufbaus des Sozialismus war die forcierte Industrialisierung. Als Standort für neue Industriebetriebe kamen vor allem die Städte, damit auch Tsingtau, in Frage.1958 war das Jahr der Bildung der Volkskommunen, deren städtische Variante sich nicht bewährte. Spätestens seit jener Zeit bildete sich die charakteristische, administrative Zweiteilung der großen Städte heraus, die Unterscheidung von städtischem Bezirk im engeren Sinne und den Außenbezirken, meist landwirtschaftlich geprägten Gemeinden, die dem administrativen Stadtgebiet zugeschlagen wurden. Eine wesentliche Aufgabe der Volkskommunen in dieser Außenzone war die Versorgung der Stadtbevölkerung mit Nahrungsmitteln. Dieser Prozeß der ständigen Eingemeindungen hat sich im Falle von Tsingtau bis 1984 fortgesetzt. Zum engeren Stadtgebiet gehört heute nicht nur die Stadt und Industriezone am östlichen Ufer der Jiaozhou-Bucht, sondern auch ein Areal auf der Westseite der Bucht, der Bezirk Huangdao. Die Außenbezirke umfaßten schon immer den Laoshandistrikt. 1977 kamen noch die Landkreise Jimo, Jiaozhou und Jiaonan hinzu, sowie 1984 Laixi und Pingdu. Tsingtau, dessen Kern am Gelben Meer liegt, reicht jetzt mit seinem Stadtgebiet fast bis zur Nordküste und zerschneidet damit administrativ die Halbinsel Shandong in einen östlichen und westlichen Flügel. Groß-Tsingtau hat jetzt eine Fläche von 10.654 qkm und dürfte mehr als 7,3 Millionen Einwohner haben, von denen rund 2,6 Millionen im eigentlichen Städtischen Bezirk (1.102 qkm) wohnen. Bemerkenswert ist die Zahl der Südkoreaner. Etwa 30.000 leben hier.
Interessant ist, daß Tsingtau in offiziellen Dokumenten des Jahres 1985 als eine Stadt der Leicht- und Textilindustrie bezeichnet wurde. Tatsächlich hat aufgrund der gezielten Entwicklungspolitik nach 1949 die Anzahl und Diversifizierung der Industriebetriebe imposant zugenommen. Aus deutscher Zeit stammen noch die Mineralwasserfabrik, Weinkellerei und Bierbrauerei, und aus der damaligen Eisenbahnreparaturwerkstatt in Sifang ist eine bedeutende Waggon- und Diesellokomotivenfabrik hervorgegangen. Die umfangreiche Textilproduktion geht auf die japanischen Gründungen zurück und umfaßt heute nicht nur Baumwollspinnereien, -webereien, -wirkereien, sondern auch Seidenspinnereien und -stickereien, Teppichknüpfereien und Bekleidungsindustrie (z.B. Sportkleidung). Die Gummindustrie (Autoreifen, Schuhe, Dichtungen, Schläuche) steht an 3. Stelle in China, und die Elektronikindustrie entwickelte sich rasch (Firmen Haier und Hisense). Die Industrieunternehmen produzieren u.a. Fahrräder, Elektromotoren, Maschinen, Eisen- und Stahlwaren, Chemikalien, Lacke und Farben, Büromöbel und Spanplatten, Radio- und Fernsehgeräte, Kühlschränke, Produkte der Meß- und Regeltechnik, Uhren, Computer und Kassettenrecorder. Bedeutend ist auch der Automobil- und Schiffbau.
Eine entscheidende neue Entwicklungsphase wurde 1984 eingeleitet als 14 Küstenorte für ausländische Investoren freigegeben wurden, darunter Tsingtau und Yantai (Chefoo). Auf der Insel Huangdao, die bereits durch einen Damm mit dem Festland verbunden ist, steht seit längerer Zeit ein Kraftwerk und sind Kais für Öltanker vorhanden. Auf dieser Insel und in der Uferzone wurde das neue Industriegebiet geschaffen. 1990 war die erste Aufbauphase abgeschlossen: Mehr als 100 Industrieunternehmen sowie Einrichtungen der Verwaltung, des Handels und der Dienstleistungen wurden auf 4 qkm angesiedelt. Bis zum Jahr 2000 hoffte man dieses neue Areal der verarbeitenden Industrie bis auf 15 qkm auszudehnen, mit 300-400 Betrieben und einer Belegschaft von 100.000. Die Lage auf der anderen Seite der Bucht erforderte allerdings hohe Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur. Von Jiaozhou aus mußte eine Stichbahn entlang der Westküste und weitere Hafenanlagen gebaut werden, sowie ein regelmäßiger Fährdienst eingerichtet werden. Doch erfüllte diese Entwicklungszone nicht die in sie gesetzten Erwartungen. Deswegen wurde 1993 östlich der Stadt eine zweite Entwicklungszone für Hightech-Industrie ausgewiesen. Im selben Jahr wurde eine 2,5 qkm große Freihafenzone eingerichtet. Problematisch ist bei dieser forcierten Industrialisierung die Versorgung mit Nutzwasser. Deswegen wurde 1989 ein 290 km langer Kanal fertiggestellt, der täglich 300.000 t Wasser vom Gelben Fluß (Huangho) ins Stadtgebiet liefert. Tsingtau ist auch Standort der chinesischen Kriegsmarine und fünftgrößter Handelshafen Chinas. Der Umschlag betrug 1995 51 Millionen t. Die Kaianlagen wurden ständig erweitert. Ursprüngliches Ausbauziel war eine Umschlagskapazität von 100 Millionen t jährlich. Zu diesem Zweck entstanden für Erdöl, Steinkohle und Erze auf der Südwestseite der Bucht 60 Liegeplätze für Schiffe mit einer Gesamttonnage von 40-60 Millionen t Umschlagkapazität. 2004 lag der Güterumschlag bei 163 Millionen t.
Das zweite Standbein, auf dem die Entwicklung vorangebracht werden soll, ist der Fremdenverkehr. Begonnen hat der Tourismus bereits im Jahre 1902, als die ersten Badegäste eintrafen. So wurde 1904 das Strandhotel an dem berühmten Badestrand der Huiquan-Bucht errichtet, und bald wurde die Stadt die Riviera des Fernen Ostens genannt. Die Kommunisten haben diese Tradition fortgesetzt und das 1920-1945 entstandene Villenviertel an der Taiping-Bucht (German Beach) und Foushanso-Bucht (American Beach) zu einem großen Sanatoriumsviertel umgestaltet. 1979 zählte man dort 18 Sanatorien mit 4.000 Betten. 2 neue Entwicklungsgebiete für den Tourismus sind ausgewiesen worden. Eines liegt rund 12 km östlich der Stadt an der Küste bei dem Dorf Shilaoren. Die Pläne vom Jahre 1984 sahen Hotels und Villen mit Badestrand, Wassersportanlagen, Golfplatz, einen luxuriösen internationalen Club und Konferenzsäle vor. Dieser Plan scheint inzwischen vom ungeheuren Bauboom überrollt worden zu sein, der in den letzten Jahren ausgebrochen ist, und der dazu geführt hat, daß auf der ca. 25 km langen Küstenstrecke am Fuße des Foushan, Wushan und Laoshan unzählige Bungalows und Wohnanlagen entstanden sind, vermutlich hauptsächlich mit dem Kapital von Auslandschinesen errichtet. Die andere Touristen- und Vergnügungszone liegt auf der Südseite der Jiaozhou-Bucht in der Nähe des neuen Industriegebietes von Huangdao, so daß ein Teil der dort Beschäftigten hier wohnen und sich erholen kann. Das Gebiet trägt die Bezeichnung Insel Xuejiadao. Tatsächlich ist es eine Halbinsel (Kap Jaeschke). Man muß sich fragen, ob dieses Auf-zwei-Beinen-Stehen – Entwicklung von Industrie und Fremdenverkehr – dem letzteren überhaupt zuträglich ist. Schließlich hat die weiter zunehmende Konzentration von Industriebetrieben in diesem Raum zu einer enormen Verschmutzung der Luft und des Meerwassers geführt.
Für eine Modernisierung der Wirtschaft sind hochrangige Ausbildungs- und Forschungsinstitute wichtig. Zwar hatte man gleich nach dem 2. Weltkrieg die von den Japanern 1938 geschlossene Universität unter dem alten Namen Shandong University wiedererrichtet, sie wurde aber in den 1950er Jahren nach Jinan verlegt. Immerhin befinden sich in Tsingtau einige Fachhochschulen wie die für Ozeanographie, für Medizin, für Chemie- und für Textilingenieurwesen. Im Jahre 1985 wurde die Qingdao University gegründet, deren Campus liegt weit draußen vor der Stadt am Hang des Foushan. Sie verfügt über geistes- und naturwissenschaftliche Disziplinen, Jura und Wirtschaftswissenschaften. In der Abteilung Literatur werden auch Fremdsprachen gelehrt, darunter Deutsch. Im Jahre 1993 wurden das Medical College, das Teacher’s College und das Shandong Textile Engineering Institute in die Universität eingegliedert, die sich seitdem als Comprehensive University bezeichnen darf. Das Ozeanographische Institut ist zur einzigen Ocean University of China aufgewertet worden. Auch besteht hier das wichtige Ozeanographische Forschungsinstitut, eine Abteilung der Akademie der Wissenschaften der Volksrepublik China. Weitere Hochschulen sind die Petroleum University of China (Qingdao Campus), die Qingdao University of Science and Technology, die Qingdao Technology University, die Shandong University of Economics and Trade, das Qingdao Hotel and Management College und die Laiyang Agricultural University. Der Freistaat Bayern hat mit der Provinz Shandong einen wirtschaftlichen Partnerschaftsvertrag abgeschlossen. Im Oktober 1985 fand deswegen in Tsingtau eine Ausstellung der bayerischen Wirtschaft statt, bei deren Eröffnung Ministerpräsident Franz Josef Strauß anwesend war. Im Gegenzug präsentierte die Wirtschaft Shandongs – und damit auch die Tsingtaus – 1987 eine Leistungsschau in München. Seit 1991 findet jährlich ein Internationales Bierfest in Tsingtau statt, eine Kopie des Münchener Oktoberfestes. 1996 hatte es 930.000 Besucher. Bundeskanzler Helmut Kohl und der chinesische Regierungschef Li Peng statteten Tsingtau am 15. November 1995 einen Besuch ab.
Die Multifunktionalität, die schon die Deutschen ihrer Stadtgründung zugedacht hatten, wurde bis heute bewahrt. Die Hafenstadt Tsingtau ist eine wichtige Handels- und Industriestadt geworden, ein bedeutender Umschlagplatz für Waren und Rohstoffe (Steinkohle, Erdöl, Erze), Standort von Forschungsinstituten und Einrichtungen der akademischen Bildung, außerdem Bade- und Erholungsort sowie Stützpunkt der chinesischen Kriegsmarine.
Copyright von Wilhelm Matzat, Bonn